Tag 5: Stuttgart

Bild-Nr. 114 - copyright Frank Chudoba

Heute steht eine wichtige Zwischenetappe an. Die Reise nach Stuttgart würde mit dem Auto - abhängig von der Verkehrssituation - 50 bis 90 Minuten dauern. Zu Fuß 5 Tagesmärsche. Ich hatte mir zu Beginn meiner Reise gesagt: wenn ich es bis hierher ohne körperliche Blessuren schaffe, so werde ich auch die restlichen Kilometer schaffen.

Die letzte Nacht habe ich im Naturfreundehaus verbracht. Dieses liegt am Wald vor dem Stuttgarter Autobahnkreuz. Der perfekte Einstieg für die nächste Etappe. Durch die Natur. Durch den Schatten. Schließlich würde mich mit Stuttgart ein Kessel, dessen Feinstaub und stickige Luft erwarten. Nein, auf die politische Situation möchte ich hier nicht eingehen, wenn heute mir noch ein adrett gekleideter Mann mich über die Korruption im Ländle aufklären wird. Nun bin ich noch auf meinem kleinem Zweibett-Zimmer. Das Handy aufgeladen, die Wasserflaschen gefüllt, den Rücksack so einsortiert, dass ich mit einem Handgriff alles finde, was ich unterwegs benötige. Ein Apfel ist mein Frühstück. Ein Glas Wasser, in dem ich eine Magnesium-Tabletten aufgelöst habe, mein Drink. Frisch geduscht, die Füße mit Hirschtalg einmassiert und fertig gepackt unterhalte ich mich draußen angekommen mit dem kroatischen Inhaber der Unterkunft, der gerade die Tische auf der Terasse für die kommenden Gäste zurecht macht. Auch um mir die Richtung zum richtigen Pfad zeigen zu lassen. Ein Foto des Gebäudes als Erinnerung und schon geht es los. Die ersten Schritte gehen bergauf. Die Müdigkeit vom Vortag wie weggeblasen. Die Freude auf diesen Tag überwiegt die Strapazen der letzten Tage. Mit einer gewissen Leichtigkeit spaziere ich durch den Wald. Über den teils lehmigen, teils steinigen Boden. Der Geruch des Waldbodens, der Duft der Tannenadeln, die Sonnenstrahlen, die durch die Zweige der Tannen den Weg erreichen. Ich genieße den Augenblick.

Ich stoße im Wald an zahlreiche Verzweigungen. Damit die Frage rechts oder links ab nicht mit großen Umwegen oder gar einer Sackgasse endet, nehme ich im Zweifel Google Maps zur Hilfe. Wegweiser? Wie auf den meisten Wegen meines Marsches: Fehlanzeige. Die Intuition soll ein treuer Gefährte sein, wenngleich diese auch einen Schlummer abzuhalten scheint. Der Blick auf meinen Kompass vermittelt eher Survival-Feeling als das dieser sich als echtes Hilfsmittel herausstellt. Die Waldwege führen ja auch nicht wirklich schnurgerade zum nächsten Etappenziel.
Und da ist er wieder, so ein Weg, der ins Nichts führt. Wo kein Weg ist, ist auch ein Weg. Einfach gerade aus. Quer durch den Wald. Mit vorsichtigen tapsigen Schritten marschiere ich durch tiefen Blätterlaub, über Baumwurzeln, über den weichen Boden, vorbei an Hochständen, in denen Jäger auf wilde Tiere lauern. Links von mir ist der Lärm der Autobahn deutlich zu hören. Ein großes blaues Schild macht auch meinen Standort deutlich. Nächste Abzweigung Stuttgart-Vaihingen
Und siehe da. Irgendwann ist der nächste Weg erreicht, der unter die Autobahn führt und schließlich nach Vaihingen. Zugepflasterte Wege statt weicher Waldboden. Straßen und Häuser statt Bäume. 

Etwa zwei Stunden nach Beginn der Reise erreiche ich den Stützpunkt der US-Army. Zwei Mannschaftswagen der Polizei sichern den Eingang mit ab. Die folgende Siedlung ist nur von Angehörige der Army besiedelt. Auf den Spielplatz haben nur deren Kinder Zutritt - das macht ein Schild in deutscher und englischer Sprache deutlich.
Eine knappe viertel Stunde weiter erreiche ich auch schon die Stuttgarter Universität, oder besser ausgedrückt einen Teil der in mehreren Stadtteilen verstreuten Uni. Nur wenige Studenten verirren sich an diesem Sonntag auf dem großzügigen Gelände. Ohne Pause geht es weiter.
Das ich so schnell im Himmel landen würde, war mir eigentlich nicht bewusst. Nun bin ich da , im Himmel - zumindest nach dem Straßennamen. Und im Himmel gibt es nun auch weiße Bänder.
Links am Schild vorbei führt der Weg schon bald in den nächsten Wald. 
Mit dem richtigen Gespür für die Richtung und mit den Hinweisen von drei sportlich gekleideten Radfahrern komme ich voran. Kurz nach eins erreiche ich einen schönen Spielplatz mit Grillstelle, einer Hütte und - keinen weiteren Menschen weit und breit. Nur vereinzelt radelt mal jemand vorbei. Die Anlage scheint im guten Zustand, auf jeden Fall gut geeignet, eine kleine Pause einzulegen. Wasser, Apfel - das übliche halt. Erfrischt geht es weiter. Und diese Etappe hat eine Besonderheit. Von nun ab geht es immer geradeaus, mit nur kleinsten Schlenkern, aber ohne abzubiegen bis zu meinem Ziel - dem Stuttgarter Schloßplatz. Eine dreiviertel Stunde ging es die Hasenbergsteige bergab. Auf der linken Seite konnte man auf das Tal herabschauen. Wer Stuttgart aus dem Süden anfährt wird dort die Straßen passieren. Ich laufe zweifelsohne auf dem schöneren Weg, vorbei an Ein- bis Zweifamilien-Häusern. Nun erreiche ich eine breite Straße und der Blick voraus macht deutlich, dass die Innenstadt nicht mehr weit ist. Die ersten Geschäfte, heute natürlich geschlossen, die ersten Cafes, gut besucht.
Kurz vor dem Ziel setzt Regen ein. Zaghaft tröpfelt es. Angenehm an diesem warmen Tag. 
Und, als hätte man mich erwartet, stimmen die Klänge eines Saxophons ein. Am Pavillon, direkt vor dem Schlossplatz hat sich eine junge Jazzband eingefunden. Ich bin kein Fan des Jazz, doch diese Variante findet meine Zustimmung. Mit Sprachgesang verleiht ein Rapper diesem Musikstil eine besondere Note. 

Ich genieße den Augenblick. Stuttgart zu Fuß. Ein tolles Gefühl, doch irgendwie scheint mir nicht klar zu sein, dass mit weiteren 33 Tagen die Reise eigentlich erst begonnen hat.
Zur Feier des Tages gönne ich mir ein kühles Bier.

Die heutige Unterkunft hat meine Frau organisiert - über Couchsurfing. Wer es nicht kennt: über eine Internet-Plattform können Reisende nach Unterkünfte suchen, die private Leute bei sich zu Hause anbieten und z.B. die Couch als Schlafmöglichkeit anbieten. Heute morgen hat mir Ernst, so heißt mein heutiger Gastgeber per SMS seine Anschrift mitgeteilt. Für den späten Nachmittag habe ich mein Eintreffen angekündigt. Er sehe auf dem Profilfoto gefährlich aus, meinte meine Frau, doch die Bewertungen sind allesamt positiv. Bewertungen habe ich bislang nie das Vertrauen geschenkt. Doch, was meine Reise und die Unterkünfte angeht, habe ich nie Zweifel oder irgendwelche Ängste. Es ist zum einen die Faszination interessante Menschen kennen zu lernen, die ja selber eine Portion Offenheit und Vetrauen in sich tragen, denn sonst würden sie ja keinen fremden Menschen zu sich einladen. Und Ernst ist in dieser Beziehung ein ganz besonderer Mensch, wie ich schnell feststelle, als ich an seiner Tür klingel. Sehr gebildet, hat er doch an der Stuttgarter Universität gearbeitet, wo er auch heute noch gern gesehener Dozent ist. So beheimatet er auch zwei Studenten aus fernen Ländern in seinem Zuhause, die allerdings wegen der Semesterferien nicht anwesend sind. Es ist mir wohl anzusehen, dass Wandern Kraft kostet und hungrig macht. Ernst lädt mich ein, gemeinsam etwas vegetarisches zu kochen. Das Gemüse brutzelt in der Pfanne und es gelingt mir, die lecker duftende Speise mit meinem Würzen nicht zu verunstalten. Ich bin doch eher derjenige, der die Kochkünste anderer zu schätzen weiß. Ok, Spaghetti, Milchreis, Salate und Ravioli - das bekomme ich auch noch hin, doch bei umfangreicheren Gerichten, ziehe ich mich gerne aus der Küche zurück und beschäftige mich mit ausgeklügelten Algorithmen meiner Software als um das Zusammenspiel von Speisen, Soßen und Gewürzen. Eigentlich hatte Ernst seit längerer Zeit keine Gäste mehr via Coachsurfing aufgenommen. Es lag daran, dass die Gäste eher an eine kostenfreie Unterkunft statt an einer Unterhaltung interessiert waren. Er hat zufällig nach langer Zeit wieder in seinem Account reingeschaut und den Eindruck, dass ich nicht zu dieser Kategorie Gast gehören würde. Wir fanden schnell die interessanten und spannenden Themen. Es gibt Menschen, die ihr Ego unter dem Motto Mein Haus, mein Auto, mein Pferd aufpolieren und nach Anerkennung götzen. Und es gibt Menschen, die froh sind, wenn sie sich nicht verstellen müssen, um anderen zu gefallen. Zu letzteren gehört Ernst. Ich habe den Eindruck, dass seine Entscheidungen aus dem Herzen entspringen. Während meine Reise kann ich nur Eindrücke, meine Sicht der Dinge bekommen. So sehr die Menschen etwas über ihr Leben, ihr Scheitern, ihre Erfahrungen, ihre Freuden preisgeben, so darf ich mir nicht anmaßen, innerhalb weniger Stunden, die ich mit ihnen verbringe, wirklich den Menschen zu kennen. Kenne ich mich selber überhaupt? 
Diese Reise werde ich so manche Erkenntnis erlangen, die tief in mir verborgen lag.


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