Tag 4: Sindelfingen

Bild-Nr. 86 - copyright Frank Chudoba

Nun sitze ich da. Auf einer Bank vor einem Pflegeheim in Holzgerlingen. Ich spiele mit dem Gedanken, dort nach einer Unterkunftsmöglichkeit zu fragen. Doch die Polizei hat mich davon abgehalten. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon sitze, wartend auf einen Anruf von zu Hause. Zwei mal kam die Polizei. Nicht direkt zu mir, sondern zum Pflegeheim, dass hinter meinem Rücken liegt, weil ein Anwohner für Unruhe sorgte. Da kommt er. Der Anruf von Zuhause. Die Betreuerin des Naturfreundehauses Holzgerlingen hätte sich zurück gemeldet. Es ist dort allerdings kein Platz mehr frei. Doch - so fährt meine Frau fort - könne sie mich in ein benachbartes Naturfreundehaus fahren, welches meine Frau telefonisch organisiert hat. Ich solle nur am jetzigen Platz warten. Ich warte. Die Wartezeit hat sich gelohnt. Nachdem ich mein Gepäck im Kofferraum verstaut habe, nehme ich im Auto Platz. Eine Autofahrt, die ich mir aufgrund meiner gelaufenen Bonusmeilen und nicht einkalkulierten Umwege verdient habe. Eine kurze Autofahrt mit interessanten Gesprächsthemen. Die bevorstehende Reise meiner Fahrerin nach Israel, wo Sie schon mal in Ihrer Jugend als AuPair Zeit verbracht hat. Der Aufenhalt solle ein Jahr dauern. Ihre Erzählung von einem guten Freund, der mit dem Fahhrad nach China loszog und dort angekommen, seitdem nicht mehr zu stoppen ist und die ganzen Welt bereist - mit dem Fahrrad. Die Erzählungen faszinieren mich. Es ist ein schönes Gefühl, dass ich dabei bin, meine persönliche Reise zu machen. 

Der Weg nach Holzgerlingen war anstrengend. So sehr ich die Sonne am Morgen genoss, um so mehr kostete ich schließlich jeden kleinen Schatten auf dem Weg aus. Doch der Schatten war rar.  Anfangs führten die Wege von Bondorf aus Richtung Hailfingen, an der Landstraße entlang, links am Ort vorbei in Richtung der Landstraße, die mich auf Kurs Böblingen bringen sollte. Doch wie es der Zufall so wollte, stand eine Frau mit Ihren Hunden genau an der Stelle, die eine Änderung der Strecke bedeuten würde. Sie vermutete erst, dass ich auch auf dem Weg zu einem Musikfestival sei. Nachdem ich ihr von meinen Plänen berichtete, lobte sie mich für meine Pläne, wendete jedoch ein, nicht die anvisierte Straße zu nutzen, da diese zu stark befahren wird und kaum zu Fuß zu bewältigen ist. Sie zeigte auf einen kaum erkennbaren kleinen Weg, der nach Tailfingen führen würde, entlang an einen ehemaligen Landeplatz der Nazis. Ja Gedenkstätten und Überbleibsel aus dem zweiten Weltkrieg hatten auch heute meinen Weg geebnet.
Der Weg dorthin ist mit Gras und Blumen bewachsen. Vom Landeplatz war kaum noch etwas zu sehen (Fotos), lediglich Betonreste und ein graviertes Messingschild wiesen darauf hin. Ein folgender kurzer Waldabschnitt spendete Schatten. Als ich in Tailfingen eintraf, nutzte ich die Chance, im Dorfladen meinen Bedarf an Obst zu decken. Der Rucksack ist einfach zu klein, um das Essen für mehrere Tage mitzuführen. Die nette Verkäuferin war aufgrund meines Gepäcks neugierig. Ich erzählte von meinem Plan, Hamburg zu Fuß zu erreichen und warum ich es mache. Das schien sie zu beeindrucken und gab mir gleich ein Brötchen gratis hinzu. Mit einem Biss in die saftige Birne ging es weiter nach Gültstein bei Herrenberg. Wieder an der Landstraße entlang, an Feldern und Wiesen vorbei. Weiter durch die sengende Hitze. 3 1/2 Stunden nach Tagesaufbruch hatte ich Gültstein durchquert und entdeckte nach dem Einbiegen auf eine kleine Seitenstraße den idealen Rastplatz: eine frisch gemähte Wiese und ein Baum, der mir Schatten spendete. Ganz wie für mich gemacht. Schuhe aus. Socken aus. Einfach mal durchschnaufen. 
Doch es musste weiter gehen. Nach etwa einer halben Stunde hatte ich mich durchgerungen, den Marsch fortzusetzen. Es ging entlang an vielen Obstbäumen. "Streuobstland in Kinderhand" stand auf einigen Pfosten. Das Obst war jedoch nicht reif genug. Vorwiegend Äpfel und Pflaumen. Schade eigentlich. Noch vor den Schönbucher Tunnel, bekannt für seine regelmäßigen Staus auf der A81, führte mich eine Unterführung unter die Autobahn Richtung Wald. Da fing auch schon die Tortur mit der Landstraße wieder an. Es gab keinen direkten Fußweg zum nächst anvisierten Ort Hildrizhausen. Ich wechselte regelmäßig von der Landstraße, an den Straßenrand, um Autos auszuweichen, entdeckte dann kleine Waldwege, die nach kurzer Zeit wieder an der Landstraße führten. Doch mein Instinkt lotste mich zu einem kleinen Waldweg, etwa 150m Meter parallel zur Landstraße verlaufend. Mit Schatten, abseits des Straßenlärms und vorbei an einem Sportplatz, welcher sich als Nachfüllstation für die knappen Wasserreserven eignete. Jede kurze Pause nutzte ich zum Trinken. Knapp 5 Liter Wasser würde ich heute in mir rein kippen. Im Ortsinneren von Holzgerlingen entdeckte ich einen Bio-Eisautomaten. Ich stellte mir vor, wie die Eiscreme mit Erdbeeren meinen Gaumen kühlt. Doch daraus wurde nichts. Der Automat nahm keine Geldstücke an. Dann blieb es halt beim mitgeführten Leitungswasser. Ich erreichte Altdorf, ein hübscher kleiner Ort, welches im zweiten Weltkrieg mit Stuttgart verwechselt sein soll und daher zur damiligen Zeit großteils zerbomt wurde. Glücklicherweise war davon nicht mehr zu erkennen und trotz größter Hitze war mir klar, dass Stuttgart auch einen weiteren Tagesmarsch entfernt sein würde.

Nun erreichte ich auch Holzgerlingen. Langsam, eher schlurfend. Der Blick richtete sich auf mein Smartphone, das immer mal zur Orientierung diente. Kein Anruf von zu Hause. Eine Übernachtungsmöglichkeit hatet sich noch nicht ergeben. Mir bereitete es kein Kopfzerbrechen, meine Frau machte es bestimmt verrückt. Am Ortseingang entdeckte ich eines der üblichen Kästen, auf denen eine Straßenkarte sowie die Restaurants und Unterkünfte verzeichnet sind. Mein Blick geht auf das Naturfreundehaus. Ich notierte mir die Kontaktdaten und leitete sie nach Hause weiter. Oder ein Waldfreibad am Waldrand? Als Übernachtungsort im Freien? Langsam machte ich mir schon Gedanken, wo ich heute schlafen würde. Zumal meine Fuße platt waren, jeder Schritt schwerer fiel. Natürlich wäre es einfach, eines der Gasthöfe aufzusuchen, auch wenn das Reisebudget knapp war. Eine mögliche Übernachtungsmöglichkeit über Facebook hatte sich zerschlagen, da die möglichen Gastgeber heute mit dem Motorrad unterwegs waren. Ich schlurfte weiter. Böblingen ist ja auch nicht der ideale Ort für Friedensaktivisten. Schuld hat wohl der Jürgen aus Freiburg, der die Rolle des Böblinger Autokonzerns Mercedes bei der Waffenproduktion kritisierte. Zu Recht. Doch Arbeitsplätze und Kapitalismus haben Vorrang in diesem Land.
Ich brauchte eine Pause. Eine Bank in Reichweite bot sich an. Eine Bank am Pflegeheim.


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